Wenn die Ausnahme zur Regel wird – das neue Sicherheitsgesetz in Mexiko

Ein halbes Jahr vor den Wahlen verabschiedet die mexikanische Regierung ein umstrittenes Sicherheitsgesetz, das Entscheidungs- und Befehlskompetenzen des Militärs legalisiert. In letzter Zeit war das Militär zunehmend in Menschenrechtsverletzungen involviert.

Marschierende Soldat/innen mit Maschinengewehren bei einer Parade
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Zivilgesellschaftliche Organisationen befürchten, dass mit dem Gesetz der Einsatz des Militärs zur Repression von Protesten legitimiert wird

Ein halbes Jahr vor den Wahlen verabschiedet die mexikanische Regierung ein umstrittenes Sicherheitsgesetz, das den Einsatz des Militärs im Inland regulieren soll. Schon seit vielen Jahren werden die Streitkräfte für den Kampf gegen die Drogenkartelle im Landesinnern eingesetzt. Die Sicherheit hat sich dadurch jedoch nicht verbessert. Im Gegenteil, Menschenrechtsverletzungen und Morde haben zugenommen.

Seit 12 Jahren befindet sich Mexiko sicherheitspolitisch in einem Ausnahmezustand. Präsident Felipe Calderón erklärte im Jahr 2006 den Drogenkartellen den Krieg und schickte das Militär auf die Straßen. Verteidigungsminister General Salvador Cienfuegos zufolge kämpfen derzeit über 50.000 Soldaten gegen die Organisierte Kriminalität und 750.000 ersetzen inzwischen die Polizei in verschiedenen Regionen. Cienfuegos hatte seit Jahren ein Gesetz gefordert, um den Operationen eine legale Grundlage zu verleihen, und bekam schließlich, was er wollte: Mit Unterstützung der Regierungspartei PRI wurde im Dezember 2017 von den zuständigen Kommissionen des Parlaments innerhalb von zwei Wochen und hinter verschlossenen Türen ein Gesetzesentwurf durchgedrückt und kurz vor der Winterpause verabschiedet.

Präsident oder Gouverneure dürfen Einsätze des Militärs veranlassen

Mit den neuen Bestimmungen kann ein Einsatz der Streitkräfte durch den Präsidenten oder auf Anfrage der Gouverneure veranlasst werden, wenn die „innere Sicherheit bedroht“ ist. Was genau „innere Sicherheit“ bedeutet und wann diese als bedroht gilt, wird allerdings nicht definiert. Das Gesetz reguliert nicht nur die seit Jahren zunehmende Präsenz des Militärs auf den Straßen, sondern erweitert auch ihre Verantwortlichkeiten.

An der Sicherheitslage hat sich bislang nichts geändert. Im Gegenteil: 2017 erreichte die Gewalt mit über 20.000 Toten und über 30.000 Verschwundenen einen Höhepunkt.

Die steigende Präsenz der Soldaten auf Mexikos Straßen spielt in diesem Kontext eine wesentliche Rolle. Aus einer Studie des Washington Office on Latin America (WOLA) geht hervor, dass mit der verstärkten Militärpräsenz die Menschenrechtsverletzungen zugenommen haben. Problem sei in diesem Zusammenhang auch die Straflosigkeit: Zwischen 2012 und 2016 wurden in nur 16 von 505 Fällen durch Soldaten begangene Delikte strafverfolgt. Das gleiche Fazit zog eine Studie des Forschungsinstitutes des Senats, die die Abgeordneten jedoch weitgehend ignorierten.

Legitimierung von Militäreinsätzen zur Repression von Protesten befürchtet

Die Heinrich-Böll-Stiftung Mexiko sprach mit Abel Barrera, Direktor des Menschenrechtszentrums Tlachinollan aus dem Bundesstaat Guerrero sowie mit dem Vize-Direktor der Menschenrechtsorganisation Centro Prodh Santiago Aguirre aus Mexiko-Stadt über die Bedeutung und Konsequenzen des neuen Gesetzes. Beide Organisationen sind Partnerinnen der Stiftung.

„Mexiko befindet sich ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Die Kandidaten stehen inzwischen fest. Dem Militär war es wichtig, noch vor dem Regierungswechsel ein Gesetz durchzubringen, um ihren Handlungen eine legale Grundlage und Kontinuität ihrer Machtposition zu verschaffen. Im Jahr 2011 hatte General Cienfuegos schon einmal Druck auf den Kongress ausgeübt und ein Gesetz gefordert. Der Versuch scheiterte damals am beharrlichen Einsatz der Zivilgesellschaft“,

interpretiert Santiago Aguirre die Dringlichkeit, mit der das neue Gesetz beschlossen wurde.

Zivilgesellschaftliche Organisationen befürchten, dass mit dem Gesetz der Einsatz des Militärs zur Repression von Protesten legitimiert wird. Nicht nur im Kontext der Wahlen ist dies besorgniserregend.

„Mit der neuen Energiereform haben extraktive Projekte wie Bergbau oder Fracking zugenommen. Doch die lokale Bevölkerung organisiert und wehrt sich“,

so Abel Barrera. Im Bundesstaat Guerrero sind über 44 Bergbaukonzessionen vergeben, sie betreffen weite Teile des Territoriums. 2017 erwirkten indigene Gemeinden einen Gerichtsbeschluss gegen das Fortschreiten der Projekte.

„Das neue Gesetz erlaubt, solche Widerstandsbewegungen als Störung der nationalen Interessen und der inneren Sicherheit auszulegen und den Einsatz des Militärs gegen sie zu rechtfertigen“,

befürchtet Abel Barrera.

Fünf Munizipien Guerreros zählen trotz (oder aufgrund?) der starken Militärpräsenz zu den gefährlichsten des Landes. Das neue Gesetz legt weder die Dauer der Einsätze fest, noch wie diese kontrolliert werden sollen oder welche Rolle die Polizei dabei einnimmt. Letztere wird schon seit Jahren in vielen Regionen vom Militär ersetzt.

Militär löst Problem der korrupten Polizei?

Mit dem Gesetz erweitert sich nun auch Verantwortlichkeit der Militärs: Während der Operationen wird ihnen die Entscheidungs- und Befehlskompetenz über die Behörden übertragen. Sie übernehmen darüber hinaus investigative Aufgaben, die auch das Abhören privater Kommunikationen einbezieht. Insbesondere nachdem Aktivist/innen und Journalist/innen mit einer Software ausspioniert worden sind, die nur Regierungsinstitutionen vorbehalten ist, werden Kritiker/innen an dieser Stelle hellhörig. Zahlreiche solcher Fälle wurden 2017 bekannt.

Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, dass die Polizei auf der lokalen Ebene (Policía municipal) zu korrupt und nicht ausreichend ausgebildet sei, um gegen die Organisierte Kriminalität vorzugehen.

„An dieser Stelle wird deutlich, dass die Regierung eine Professionalisierung der Polizei gar nicht erst in Erwägung zieht. Unsere Erfahrungen in Guerrero haben uns gezeigt, dass nicht nur Polizisten, sondern auch die Bürgermeister und Beamten korrupt sind. Man geht davon aus, dass eine Militarisierung das Problem der Zusammenarbeit der Organisierten Kriminalität mit den staatlichen Autoritäten auf lokaler Ebene lösen wird. Aber wie wird garantiert, dass Elemente des Militärs nicht auch korrupt sind? In Guerrero haben wir mehrere Fälle dokumentiert, in denen Soldaten ins Drogengeschäft verwickelt waren.“,

so Abel Barrera.

„Mit dem Argument der korrupten Polizei bestätigt die Regierung, dass die Linie zwischen Organisierter Kriminalität und staatlichen Akteuren auf lokaler Ebene durchlässig geworden ist. Dabei blendet sie jedoch die Komplexität des Problems aus. Nicht nur die lokale, sondern auch die bundesstaatliche Polizei, Staatsanwälte, Gouverneure, Abgeordnete, ganze Sektoren sind Teil der Organisierten Kriminalität“,

so Aguirre.

„Anstelle eines Sicherheitsgesetzes benötigen wir eine Reform des Polizeiapparates und eine professionelle und unabhängige Staatsanwaltschaft, die diese kriminellen Netzwerke aufdeckt und Konsequenzen zieht.“

Bisher hat keiner der Präsidentschaftskandidaten eine detaillierte Analyse der bisherigen Sicherheitspolitik oder einen Entwurf eines zukünftigen Sicherheitsmodells vorgelegt. Sie stehen hinter dem Gesetz. José Antonio Meade von der Regierungspartei PRI bewirbt es gar in seiner Kampagne und weiß, dass er auf viele Befürworter/innen stoßen wird, insbesondere in Regionen wie Tamaulipas, wo kaum mehr rechtsstaatliche Strukturen existieren und die Bevölkerung den Einsatz des Militärs einfordert.

Internationale Organisationen und mexikanische Zivilgesellschaft protestieren

Centro Prodh und Tlachinollan dokumentieren seit Jahren Fälle, in denen es zu Menschenrechtsverletzungen durch Militärangehörige kommt. Ayotzinapa ist nur einer von vielen Fällen. Bis heute wurde das Verschwinden der 43 Studenten nicht aufgeklärt. Auch die mexikanische Menschenrechtskommission hat in den letzten Jahren tausende Beschwerden erhalten. Als einzige staatliche Institution sprach sie sich gegen das Gesetz aus und es wird erwartet, dass sie vor dem Obersten Gerichtshof eine Klage einreicht.

Auch auf internationaler Ebene wurde das Gesetzt kritisiert. Der Repräsentant der Vertretung des Hochkommissariats für Menschenrechte der UNO in Mexiko, Zeid Ra' ad Al Hussein, richtete sich in einem offiziellen Schreiben an die mexikanische Regierung und drückte anhand einer detaillierten Analyse des Gesetzestextes seine Besorgnis aus. Die interamerikanische Menschenrechtskommission, die Organisation Amerikanischer Staaten und das Europäische Parlament forderten die mexikanische Regierung auf, das Gesetz fallen zu lassen. Es sei nicht nur verfassungswidrig, sondern verstoße auch gegen internationale Abkommen. Die Maßnahmen stellten keine Lösung für die Unsicherheit im Land dar, sondern vielmehr eine Institutionalisierung und Legalisierung einer Sicherheitsstrategie, die gescheitert sei.

Organisationen der mexikanischen Zivilgesellschaft, darunter auch Centro Prodh und Tlachinollan, Rektor/innen der wichtigsten Universitäten Mexikos und bekannte Intellektuelle gründeten die Bewegung #SeguridadSinGuerra (#SicherheitohneKrieg) und organisierten Demonstrationen. Nicht nur in Mexiko-Stadt, sondern auch in den Bundesstaaten gingen die Menschen auf die Straßen, unterstützt von den örtlichen Menschenrechtskommissionen. Bei einem der Protestmärsche zündeten sie Kerzen an, um den Opfern der Gewalt in Mexiko zu gedenken.